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Interview mit Alexey Retinsky

Was löst der Begriff «Exil» in dir aus? Welches Bild kommt dir dazu in den Sinn?
Als Erstes fällt mir die bekannte Geschichte von Maria und Josef ein, die nach Ägypten flohen, um das Jesuskind vor dem schrecklichen Erlass von König Herodes zu retten, der alle Säuglinge erschlagen liess. Nach dem Matthäus-Evangelium erliess der damals schon ältere Herodes, als er von den Weisen erfuhr, dass sie nach Bethlehem reisen würden, um den neugeborenen «König der Juden» anzubeten, einen Befehl zur Tötung aller Knaben unter zwei Jahren, um keinen Rivalen zu haben. Aber es ist auch äusserst interessant, dass hier der Archetyp der Rache der alten Welt an der kommenden neuen Welt durchscheint. Der Stachel des altersschwachen Todes will die Blüte der Zukunft erschlagen. Das Exil ist also eine extrem erzwungene Form, eine wichtige Botschaft für die Zukunft zu bewahren – vor allem das Leben selbst.

Erzähl uns über dich.
Seit 22 Jahren träume ich davon, das Unaussprechliche mit Klängen auszudrücken, das Unhörbare zu hören und einfach ein perfektes Lebenswerk zu schaffen. Dass das Leben selbst zu diesem Werk wird. Diese Mission ist nie ganz zu erreichen, aber das Streben nach dem Ziel ist die einzige Option, die ich für meine Existenz habe. Das scheint das Wichtigste zu sein, was
ich über mich sagen kann.

Was ist für dich Heimat?
Es ist, wenn sich der Raum um mich herum wie der Schwanz eines treuen Hundes verhält, der schon lange auf sein Herrchen wartet. In einem Übermass an Liebe wackelt er hemmungslos von einer Seite zur anderen wie ein verrücktes Metronom. Er vi­briert auf eine Weise, die mich synchron mit ihm vibrieren lässt.

Ist Musik für dich eine Heimat im Exil?
Ja, ich hätte es nicht besser sagen können. Wo auch immer das Leben mich hinführt, es ist wie eine Handvoll Heimaterde in einem kleinen Säckchen, das ich immer in meiner Tasche habe.

Was sind Töne für dich?
Das materiellste Phänomen alles Nichtmateriellen.

Kannst du einige Worte zum Titel deines Stücks sagen, «Die Konturen der Verlorenen»?
Im letzten Sommer entdeckte ich im Süden am Meer immer wieder ein interessantes Phänomen: die abgeworfene Haut der Gottesanbeterin, die in dieser Region reichlich vorhanden war. Eine verblasste, durchsichtige, durchscheinende, leichter als Luft, aber vollkommen akkurate Karkasse des Körpers der Gottes­anbeterin. Eine reine Form, bereits ohne Inhalt, aber mit der Idee der Gottesanbeterin selbst, die immer noch darin ­gefangen ist. Da kam mir der Titel Die Konturen der Verlorenen in den Sinn.

Viele Umstände und Menschen werden nie wieder in unserem Leben vorkommen und sind nur im Traum real. Vor allem, wenn es sich um die Erfahrung des Exils handelt. Aber wir, die Sklaven des Chronos, ballen die Faust in der Tasche – das Gedächtnis. Das Gedächtnis als Hilfsmittel zur Überwindung von Zeit und Raum. Nicht umsonst ist eines der wichtigsten Rädchen im ­Mechanismus der Musikwahrnehmung die Erinnerung an das, was gerade eben oder vor einer halben Stunde passiert ist, um daraus einen gemeinsamen Nenner zu machen

Was bedeutet Musik (schreiben/komponieren/finden) in der jetzigen Zeit (noch)?
Als Kind habe ich fasziniert Dokumentationen von Jacques-Yves Cousteau gesehen. Ein Unterwasser-Bathyscaphe lüftete den Schleier in eine magische Realität, parallel zu den turbulenten Zeiten Mitte der 1990er Jahre.

In einer der Episoden sah ich, wie Meeresforscher natürliche Farbstoffe ins Wasser warfen, um die Richtung, Temperatur und Geschwindigkeit der Strömungen im Ozean zu bestimmen. Auf diese Weise wurde das Unsichtbare sichtbar.

Unter allen anderen Künsten hat die Musik, wie die Poesie, die seltensten Möglichkeiten, das Ungreifbarste, das Flüchtigste, das Schwer fassbare zu erfassen, das einem entgleitet, wenn man sich ihm nähert – die verborgenen Orte der geistigen, intellektuellen und unterbewussten Erfahrung. So ist der Klang wie der Farbstoff, der das Denken greifbar, genauer hörbar, noch genauer gehört macht.

Verbindest du spezielle Bilder mit dem Gedanken an einen Streichorchesterklang (+ Cembalo)?
Gute Frage. In letzter Zeit habe ich oft über den historischen Weg eines Instruments oder einer Besetzung nachgedacht. Über ihre Rolle oder ihren Ruf sozusagen im Kontext der Musikkultur. Und das sind die zusätzlichen Bedeutungen, mit denen es für einen Komponisten heute keinen Sinn macht, in eine Schlacht zu ziehen. Es wäre für den Komponisten ein Fiasko.

Und es ist wichtig, diese historische Trägheit zu erkennen und in die richtige Richtung zu lenken. Das Streichorchester, insbesondere mit dem Cembalo, ist sicherlich eines der Symbole der Barockmusik – von der venezianischen bis zur deutschen und französischen Schule, vom Concerto-grosso bis zu den Konzerten mit dem Soloinstrument. Es ist interessant, dies beim Schreiben von Musik im Hinterkopf zu behalten

Gibt es sonst etwas, was du über dein Stück oder zu unserem Publikum sagen möchtest?
Ich möchte immer, dass sich meine Erfahrung durch Musik manifestiert. Aber ich verstehe sehr gut, dass von dem Moment an, in dem der Punkt in die Partitur eingetragen wird, das Stuck wie ein Schiffchen aufbricht zu einer langen Reise in die Weltmeer. Und ich werde nicht mehr in der Lage sein, die Richtung des Windes zu beeinflussen oder sein Anlegestelle zu sein. Die Musik muss und kann für sich selbst sprechen und braucht nicht mehr die Hilfe eines Anwalts in Form seiner Halbschwester – Literatur. Damit dieses Schiffchen das Ziel erreicht, werden viele Komponenten benötigt. Und eines davon ist ein einziges mysteriöses Verständnisfeld zwischen Zuhörer und Musik. Ich kann nur hoffen und vom Ufer aus mit einem weißen Taschentuch winken.

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